Immer mehr Automobilhersteller erschweren unabhängigen Werkstätten den Zugang zu wesentlichen Fahrzeugdaten. ATU und Carglass gehen in einem Gerichtsverfahren gegen dieses wettbewerbswidrige Verhalten vor. Dieses Musterverfahren wurde nun an den Europäischen Gerichtshof verwiesen.
On-board-Diagnose als Schlüssel zum Fahrzeug
Fast jede Tätigkeit einer Autowerkstatt – ob Reparatur oder Wartung – erfordert, dass der Mechaniker über den so genannten On-board-Diagnose-Anschluss (OBD-Anschluss) Zugang zum Datenstrom des Fahrzeugs erhält. ATU und Carglass erhalten wie jede andere unabhängige Werkstatt diesen Zugang über gängige Mehrmarken-Diagnosegeräte, die mit dem OBD-Anschluss des Fahrzeugs verbunden werden.
Beispielsweise ist der Austausch einer Windschutzscheibe durch die Spezialisten von Carglass bei modernen Fahrzeugen ein technisch komplexer Vorgang. Bereits heute benötigen ca. 30 Prozent aller Fahrzeuge eine Kalibrierung ihres Fahrerassistenzsystems, wenn die Windschutzscheibe ausgetauscht wurde – eine Prozentzahl, die weiter steigt. Auch für diese Kalibrierung greifen die Spezialisten über die OBD-Schnittstelle direkt auf den Fahrzeugdatenstrom zu.
Einige Fahrzeughersteller haben jedoch begonnen, den Zugang zum OBD-Port für freie Werkstätten zunehmend zu erschweren, indem sie z.B. im Vorfeld die persönliche Registrierung des Monteurs, die Zahlung von Lizenzgebühren für die Öffnung des Ports und/oder eine Internetverbindung zu ihren Servern während des Diagnosevorgangs verlangen.
Mit diesen technischen Hürden beeinträchtigen diese Fahrzeughersteller den freien Wettbewerb auf dem Aftersales-Markt und die Wahlfreiheit der Verbraucher. Das kann zu höheren Preisen für die Verbraucher führen – sei es in der Werkstatt oder in Form erhöhter Versicherungsprämien. Unabhängige Unternehmen wie ATU und Carglass sind darauf angewiesen, dass ihnen Fahrzeughersteller den Zugang zum Fahrzeugdatenstrom freischalten. Beide Unternehmen sind der Ansicht, dass es mit europäischem Recht unvereinbar ist, wenn Fahrzeughersteller nach dem Verkauf die Diagnose bei ihren Fahrzeugen von der Erfüllung solcher Bedingungen abhängig machen.
Fall kommt vor den EuGH
ATU und Carglass haben beschlossen, die Frage in einem Musterverfahren gegen Fiat Chrysler (FCA Italy SpA – „FCA“) vor dem Landgericht Köln klären zu lassen. Da es in dem Fall um die Auslegung einer EU-Verordnung, nämlich der Verordnung (EU) 2018/ 858, geht, beantragten die Kläger beim nationalen erstinstanzlichen Gericht, den Fall dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) zur Auslegung der fraglichen Bestimmungen vorzulegen.
Nun hat das Landgericht Köln beschlossen, den Fall dem EuGH vorzulegen. Das Aktenzeichen des EuGH lautet C-296/22. Konkret geht es vor dem EuGH um die Frage, ob die von der FCA auferlegten Bedingungen für die Aktivierung des OBD-Ports (das so genannte „Secure Gateway“: persönliche Registrierung des Mechanikers bei der FCA, ständige Internetverbindung zum FCA-Server während der Schreibvorgänge) nach EU-Recht zulässig sind.
Die Auslegung des EU-Rechts durch den EuGH wird EU-weit Rechtssicherheit schaffen und sowohl für die Fahrzeughersteller als auch für alle unabhängigen Marktteilnehmer – über ATU und Carglass hinaus – verbindlich sein. Beide Unternehmen werden von der internationalen Anwaltskanzlei Osborne Clarke vertreten. Quelle: ATU / Carglass / EuGH